





Auf einen Blick
In der Theorie klingt es ganz einfach: "Kaufen, wenn die Kanonen donnern. Verkaufen, wenn die Violinen spielen." So sagte es Bankier Carl Mayer von Rothschild im 19. Jahrhundert. Darauf beruht die Strategie des antizyklischen Investierens. Der große Investor Warren Buffett, Leiter der Holding Berkshire Hathaway, formuliert es so: "Sei ängstlich, wenn andere gierig sind, und gierig, wenn andere ängstlich sind."
Klingt plausibel. Und genau darum fragen sich Menschen auf der ganzen Welt: Warum hat Buffett in der Corona-Krise noch nicht zugeschlagen?
Der schillernde Unternehmer Elon Musk (PayPal, Tesla, SpaceX) lästerte Mitte Mai über Buffett: Sein Job als Investor sei langweilig. "Er liest jede Menge Geschäftsberichte und Bilanzen, und das ist wirklich ziemlich öde." Das viele Lesen streitet Buffett nicht ab, im Gegenteil – er verbringt fünf bis sechs Stunden pro Tag mit der Lektüre von fünf Tageszeitungen und 500 Seiten Geschäftsberichten. Und er hat Zugang zu sehr viel Daten, die dem Privatanleger verschlossen sind. Die Frage ist also: Was sieht er?
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Während der Corona-Krise erreichte der Index S&P 500 sein bisheriges Tief am 23. März bei knapp 2.200 Punkten. Am 2. Mai fand eine virtuelle Hauptversammlung von Berkshire Hathaway statt. Es war bekannt, dass Berkshire eine "Kriegskasse" von 137 Milliarden US-Dollar (umgerechnet 124 Milliarden Euro) aufgebaut hatte, denn Buffett hatte in der Vergangenheit betont, dass er kein günstiges "Value-Investment" finde, und zwar seit 2016.
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Also warteten alle, was der Meister verkündet. Und es kam – nichts. Beziehungsweise: Kein Signal von Zukäufen. Im Gegenteil: Aktienrückkäufe und Verkäufe der Anteile an Luftlinien und Banken. Außerdem eine Verringerung des Engagements bei Amazon. Buffett warnte vor weiteren Risiken: "Die Bandbreite der Möglichkeiten auf der wirtschaftlichen Seite ist immer noch außergewöhnlich weit." Bei der Finanzkrise ab 2008 seien Wirtschaft und Börse zwar wie ein Zug entgleist, aber auf schlechtem Untergrund weiterhin unterwegs gewesen. "Diesmal haben wir den Zug von den Gleisen geholt und daneben abgestellt."
Buffetts Kompagnon und Alter Ego, Charlie Munger, gab dem Wall Street Journal schon am 17. April, vor der Berkshire-Hauptversammlung, ein Interview, in dem er sagte: "Im Grunde verhalten wir uns wie der Kapitän eines Schiffes, wenn der schlimmste Taifun, der jemals passiert ist, auf uns zukommt." Und weiter: "Wir wollen nur durch den Taifun kommen und wollen lieber mit viel Liquidität herauskommen."
Munger spricht also von Berkshire Hathaway als einer Arche der Sicherheit für die Aktionäre und die Unternehmen der Holding. Liquidität ist Trumpf für den 89-jährigen Buffett und den 96-jährigen Munger. Die beiden haben in ihrem Leben an den Finanzmärkten schon fast alles erlebt.
Diese Erfahrung haben die beiden als langfristige Investoren gewonnen, mit Buy and Hold, also Kaufen und Halten. Für Buffett und Munger liegt der Gewinn in Geduld und im günstigen Kauf. Wenn die beiden also seit 2016 Cash horten und auf günstige Gelegenheiten warten und bisher bei der Corona-Krise noch nicht zugeschlagen haben – was sehen sie?
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Natürlich kann niemand in die Köpfe der beiden Legenden schauen, aber ein wichtiger Aspekt könnte ein Indikator sein, der nach Buffett benannt ist. Dieser Warren-Buffet-Indikator benutzt das Verhältnis von Realwirtschaft und Börse. Beides ist ja nicht dasselbe. André Kostolany hat es einmal so verglichen: "Mit der Wirtschaft und der Börse verhält es sich wie mit einem Mann und seinem Hund beim Spaziergang. Der Mann geht langsam und gleichmäßig, der Hund läuft vor und zurück. Aber beide bewegen sich in die gleiche Richtung. Der Mann ist die Wirtschaft, der Hund ist die Börse."
Der Hund bleibt also immer an der Leine. Übersetzt heißt das: Dauerhaft kann es der Börse nicht viel besser oder schlechter gehen als der Wirtschaft. Darum sagt Buffett, dass eine wichtige Kennzahl für ihn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sei. Daran misst er die Renditeaussichten an der Börse. Oder die aktuellen Kurse im Vergleich zu diesem Wert. Um Wirtschaft und Börse ins Verhältnis zu setzen, bildet er den Quotienten aus dem BIP der USA und dem Wilshire 5000, einem Aktienindex, der alle börsennotierten Unternehmen der USA enthält. Daraus lässt sich schließen, ob der Aktienmarkt billig oder teuer ist.
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Als Faustformel gilt: Ein Wert von 50 Prozent oder weniger weist auf "billig" hin, also auf Unterbewertung. Ab 115 Prozent ist der Markt wohl eher teuer. Anfang Mai bewegte sich der Indikator in Richtung 180 Prozent. Dieser hohe Prozentsatz hat sich laut Schätzungen auch danach nicht gesenkt. Was an dem Einbruch der Wirtschaft und damit des BIP liegt, bei gleichzeitig zuletzt wieder deutlich gestiegenen Börsen. Zu diesem Wert tragen auch die niedrigen Leitzinsen bei, die Aktien für viele "alternativlos" machen.
Zum Vergleich: Kurz vor dem Platzen der Dotcom-Blase Anfang 2000 belief sich der Buffett-Indikator auf 118 Prozent, zu Beginn der großen Finanzkrise 2008 pendelte der Index um 100 Prozent. Nun muss man den Indikator in einen Kontext setzen: Es geht hier nur um eine Kennzahl, deren Prognosekraft daher begrenzt ist. Andererseits wird deutlich, dass der Aktienmarkt bereits vor einem Jahr mit gut 160 Prozent sehr teuer war, gemessen an der Realwirtschaft.
Manche mögen es Staatskapitalismus nennen, aber gegen ein weiteres Abstürzen von Finanz- und Realwirtschaft sprechen zudem die Staatshilfen, bei denen man schon nicht mehr in Milliarden, sondern in Billionen rechnet. Das war auch ein gewichtiger Grund, warum sich die Börsenkurse nach dem 23. März wieder erholten. Seit Mitte April bewegen sich die Märkte jedoch wieder seitwärts. Das könnte mit der Frage zusammenhängen: Wie lange können sich die Börsen noch von der Wirtschaft abkoppeln? Denn für die Wirtschaft gelten Prognosen wie: größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg (laut den Vereinten Nationen). An einer Rezession führt wohl kein Weg vorbei, schaut man sich etwa die 36 Millionen arbeitslosen Amerikaner an oder die zehn Millionen Deutschen in Kurzarbeit.
Die Wirtschaft schrumpft, und die Kurse steigen. Aber auf Dauer kann der angeleinte Hund seinem Herrchen nicht davonlaufen. Am 15. Mai, Freitag nach Börsenschluss, gab Berkshire eine Pflichtmitteilung heraus, wonach man sich von mehr als zehn Millionen Goldman-Sachs-Aktien trennt. Das wird als klares Signal gewertet, dass Buffett einen erneuten Corona-Crash mehr fürchte, als gute Kaufgelegenheiten zu verpassen. Berkshire behält allerdings Apple, American Express, Bank of America, Coca-Cola und Wells Fargo als langfristige Investments.
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Fürchtet Buffett sich? Daran kann man zweifeln. Er ist ein profunder Kenner der Börsengeschichte und erlebt selbst gerade seinen 8. Crash. Bei einem Börsenkrach ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass es nicht bei einem ersten Absturz der Kurse bleibt. Das war insbesondere auch beim Platzen der Dotcom-Blase und bei der Subprime-Krise so, ebenfalls bei der Weltwirtschaftskrise in den 30er-Jahren.
Wie hat Buffett sich eigentlich früher verhalten? Blicken wir zuerst ein Jahr zurück, ins Jahr 2019, als er in seinem jährlichen Aktionärsbrief schrieb: "Wir hoffen jedoch weiterhin auf eine Übernahme in Elefantengröße." Dafür warte er auf attraktive Angebote zu vernünftigen Preisen. Ein Jahr vor dem Börsenkrach 1987 schrieb der Star-Investor: "Wir finden zurzeit keine Aktien, die unsere Erwartungen erfüllen." Er beobachte eine Euphorie an der Wall Street, die die Kurse auf unrealistische Niveaus gehoben habe.
Am Schwarzen Montag, den 19. Oktober 1987 fielen die Kurse um mehr als 20 Prozent – an diesem einzigen Tag. Und auch 1987 kaufte Buffett kaum Aktien. In seinem Aktionärsbrief schrieb er: "Bei Berkshire haben wir in den letzten Jahren wenig zu tun gefunden mit Aktien. Beim Einbruch im Oktober fielen einige Aktien auf Preise, die uns interessierten, aber wir konnten keine sinnvollen Käufe tätigen, bevor sie sich erholten." Das erinnert an die V-Formation beim Corona-Crash im März: rapide runter und gleich wieder steil rauf.
Buffett hat also noch nicht seine "Elefantenbüchse" herausgeholt, um Jagd auf große Unternehmen zu machen wie damals 2011 bei der Bank of America (BoA), als er sich nach einem 30-prozentigen Kurseinbruch mit fünf Milliarden US-Dollar knapp sieben Prozent der BoA-Anteile sicherte.
Ob es zu einem weiteren Crash kommt oder nicht, weiß zur Stunde niemand. Was in dieser Zeit wie auch sonst immer wichtig ist und bleibt: Man kann an der Börse Geld verdienen, indem man günstig einkauft. Man verdient aber auf jeden Fall Geld, wenn man mit seinem Portfolio Geduld hat und es liegen und reifen lässt. Crashs kommen und gehen. Der langfristige Trend der Börse nach oben bleibt.